Quantcast
Channel: Richard Gleim – gnogongo
Viewing all articles
Browse latest Browse all 10116

Wahlsonntag

$
0
0

Ein Tag wie jeder andere. Die Sonne drückt durch eine Schicht von Hochnebel, den man am Niederrhein als allgegenwärtigen Dunst wahrnimmt. Ein wenig schwül, ein wenig warm ist es.

Ein Mann, die 60 hat er gut überschritten, von kräftigem, gedrungenen Körperbau öffnet die Glastür den rohrartigen, edelstahlglänzenden Griff fest umgreifend. Sein Gesicht verfinstert sich und bekommt urplötzlich einen zornigen Ausdruck. Jetzt den Edelstahlgriff auf der Außenseite der Glastür fest umklammernd und sich so Halt verschaffend holt er mit dem rechten Bein weit aus und gibt einem kleinen Papierschnitzel auf dem Trottoire vor seiner Haustür einen kräftigen Tritt, so kräftig, dass dieser jeden Fußball weit in die oberen Zuschauerränge eines ausgewachsenen Stadions befördert hätte.

Der Papierschnitzel zwar schwer getroffen aber wenig beeindruckt wendet sich einmal um sich selbst, zeigt die bisher verborgene Seite seines rot-blauen flachen Daseins und liegt jetzt eben um die Breite seiner Erscheinung gewendet 2 cm verrückt gegenüber der vorherigen Lage wieder ebenso platt und .lakonisch auf dem grauen Trottoirepflasterstein, den ihm das Schicksal als vorläufige Bleibe ausgesucht hat.

Der zornige, ältere Mann mit seinem runden Kopf und dem Kranz grau-weißer Haare um seine mit nur wenigen Haarstoppeln geschmückten Fastglatze muss wohl gemerkt haben, dass sein Zorn sich nun gegen sich selbst und seine Unfähigkeit, einen nur wenige Quadratzentimeter großen und kaum ein Gramm schweren Papierschnitzel entscheidend zu bewegen,  richten müsste oder aber seinem Bedürfnis, für Ordnung zu sorgen, war ausreichend Ausdruck verliehen worden. Er machte keinen zweiten Versuch, bückte sich auch nicht, um den Papierschnitzel zwischen zwei Finger nehmend in den nahen öffentlichen Papierkorb zu befördern. Er schreitet keine besondere Regung zeigend los und geht wählen.


Viewing all articles
Browse latest Browse all 10116